Blog

Energiepreise auf Achterbahnfahrt

IN DER KATEGORIE: Energiemanagement, Strom,

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

am 29. August hat Strom cal 23 „base“ an der EEX die Marke von 1.000 €/MWh überschritten und notiert aktuell wieder bei ca. 500 €/MWh. Am 26. August hat das Erdgas cal 23 die Marke von 300 €/MWh überschritten und notiert aktuell wieder bei ca. 200 €/MWh. Hätte sich ein größerer Kunde (z. B. eine Papierfabrik) mit 100 GWh/a beim Höchst­stand für 2023 komplett eingedeckt, ständen nächstes Jahr über 100.000 MWh * 1.000 €/MWh = 100 Mio. € auf der Stromrech­nung. Für das Unter­nehmen wäre das vermutlich die Insol­venz, damit eventuell auch die des Lieferan­ten, der die 100 Mio. € als Sicherheit („Margin“) hinterlegen musste. Auch bei 500 €/MWh für Strom bzw. 200 €/MWh für Erdgas wird es aber nicht viel besser sein. Um die Domino­steine nicht zum Einsturz zu bringen – die Stadtwerke Wien und der Deutsche Städtetag, der einen Schutzschirm für Stadt­werke fordert, lassen grüßen – müssen die Notierungen für Strom und Erdgas schnell und nachhaltig sinken. Spätes­ens, bis die Pflichteindeckung vieler Verträge für 2023 greift.

Vorausgesetzt, mindestens 20 % der bei Letztverbrauchern benötigten Energiemengen für 2023 sind preislich noch nicht abgesichert und es werden weiterhin keine kurzfristig wirkungsvollen Maßnahmen ergriffen, steht uns das Haupt­beben an den Energiemärkten und damit in der gesamten Wirtschaft noch bevor. Die Strom­knappheit, von der viele Politiker und Medien bis vor Kurzem behaupteten, sie exis­tiere nicht, zeigt, wie wertvolle Zeit im Kampf gegen die Preisexplosion verschwendet wurde. Die von der EU-Kom­mission nun kurzfristig angekün­digte Notfallinter­ven­tion bzw. Strukturreform des Strom­marktes führen nicht zu einem höheren Stromangebot, sondern zu noch mehr Komplexität, weiteren Verteilungsdebatten und im schlimmsten Fall zum Scheitern des Marktes. Die Politik hat heute mit den Fehlern der Vergangenheit zu kämpfen, die nicht unmit­telbar im Verantwor­tungsbereich der heute handelnden Akteure liegen. Es sind im Wesentlichen zwei Punkte, die zur aktuellen Situation geführt haben:

  1. Der übereilte Atom- und Kohleausstieg ohne ausrei­chende Absicherung der fehlenden Kapazitäten. Ein Kapazitäts­markt für gesicherte Leistung und Arbeit wurde diskutiert, aber nicht eingesetzt. Damit gäbe es heute deutlich mehr betriebsbereite Kohlekraftwerke.
  2. Die verpasste Diversifizierung der Erdgasimporte in der EU, besonders in Deutschland, wo Erdgas als Brücken­energieträger dienen soll. Die Versorgung hätte spätestens nach der russischen Invasion auf der Krim auf eine global breite Basis gestellt werden müssen.

Die Kosten wären in Summe höher gewesen. Aber wir könnten uns, verglichen mit heute, bequem zurücklehnen.

Hingegen war die Zuspitzung der Situation nach Beginn des erneuten russ­ischen Überfalls auf die Ukraine absehbar, womit wir, neben dem Herrscher im Kreml, beim Kern des Problems sind: Spätestens seit Ausrufung der Frühwarn­stufe am Gasmarkt im März wurden wichtige Maßnahmen unterlassen, die das Angebot an gesicherter Erzeugung erhö­hen. Langfristige Stra­tegien wie der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Ener­gien sind extrem wichtig, helfen aber nicht kurzfristig. Das Gebot der Stunde ist eine wirkungsvolle und unkomplizierte Strategie zur Lösung der Krise. Für den kurz- und mittelfristigen Zeit­raum vermissen wir diese Strategie – nichts anderes sagt der Markt bei Preisen von 500 €/MWh beim Strom bzw. 200 €/MWh beim Erdgas für nächstes Jahr.

Seit März haben wir in unseren Beiträgen Vorschläge gemacht, die prinzipielle Auswege aus der akuten Energie­krise zeigen. Wir stellen sie in angepasster Form noch einmal zur Diskussion. Einige Punkte sind in den letzten Tagen von der Politik zumindest teilweise aufgegriffen worden, wir sehen aber radikaleren Handlungsbedarf:

  1. Der von uns für den Übergang geforderte Wiederein­stieg in die Kohlever­stromung kommt zu zaghaft und zu spät. Wir halten eine vorerst unbe­fristete und verpflichtende Stein- und Braunkohle­verstromung (aktu­ell befristet und freiwillig) technisch betriebsfähi­ger Kraft­werke für geboten, bis sich die Märkte lang­fristig beruhigt haben. Die Kohle­versor­gung kann durch die Regierung sicher­gestellt werden, das Genehmigungsrecht wird auf das Nötigste redu­ziert, CO2-Zertifikate kommen äquiva­lent aus der EU-ETS Markt­stabilitätsreserve zurück in den Markt und die zusätzli­chen CO2-Emissionen wer­den in den Folge­jah­ren ausgeglichen, z. B. durch CCS/CCU - auch in Deutsch­land.
  2. Die in Betrieb befindlichen Atomkraft­werke wer­den (ggf. nach einem weiteren Sicherheit­s­check) so lange weiterbetrieben, bis Erdgas entwe­der wieder lang­fris­tig günstiger ist oder durch Kohle­kraftwerke aus der Merit-Order-Liste (MOL) weitest­gehend verdrängt ist.
  3. Kurzfristige Liquidität nutzen: Es liegen ca. 17,5 Mrd. € auf dem EEG-Konto, verursacht durch die hohen Strompreise. Dieses Geld aus den Vermark­tungserlö­sen der Netzbetreiber sollte sofort zur Aus­setzung der § 26 EnSiG-Umlage eingesetzt werden.
  4. Die schnelle Einführung eines einfachen Auktionsmo­dells für Gas und bei Bedarf auch für Strom. So wür­den Unternehmen kurzfristig Energie einsparen bzw. alternative Brennstoffe nutzen und hätten einen Anreiz, günstig beschaffte Energiemengen zu veräußern. Der­zeit ist ein komplexes Auktionssystem geplant, das den Bilanzkreisverantwortlichen adressiert, den der Indust­riebetrieb ins Boot holen muss. Die Wirkung entfaltet sich vermutlich zu spät, um den gewünschten Nutzen zu bringen.
  5. Die Abschaffung der Stromsteuer oder zumindest die Reduzierung auf den EU-Mindestsatz ist längst über­fällig und würde gleichzeitig zu Bürokratieabbau führen. Die Energiesteuer auf Erdgas sollte folgen, womit sich die Notwendigkeit des Spitzenausgleichs dann auch erledigt hat.
  6. Bis die vorgenannten Maßnahmen wirken, ist die zügige Einsetzung eines Strom- und Gaspreisdeckels ohne Markteingriffe notwendig. Er sollte hoch genug sein, um alle nennenswerten Effizienz- bzw. Einspar­potentiale kurz- und langfristig anzureizen und niedrig genug, um die Verbraucher nicht zu über­fordern. Vertrauen und Plan­barkeit müssen in den Markt zurückkehren. Die Ausge­staltung ist nicht trivial, um unerwünschte Nebenef­fekte zu ver­meiden. Für Unter­nehmen sollte er in Anlehnung an das bestehende Energiekostendämpfungsprogramm (EKDP) ausgear­beitet werden, jedoch ohne Limitierung auf bestimmte Wirtschaftszweige und deutlich unbürokratischer.

Fazit: Die Lage am Energiemarkt ist unberechenbar. Strom "base" cal 23 zeigt das eindrucksvoll, indem es innerhalb von gut zwei Woche von ca. 500 auf 1.000 €/MWh steigt, um dann wieder dorthin zurückzukehren. Es darf keine Zeit mehr verschwendet werden, beherzt die Angebotsseite zu erhöhen. Nur so werden die Preise stabilisiert und wieder nachhaltig gesenkt. Das würde ein Eingreifen in den Han­delsmarkt mit unabsehbaren Folgen, wie es jetzt diskutiert wird, auf ein Minimum beschränken. Auch die finanziellen bzw. gesellschaftlichen Folgen der Energiekrise würden gemindert. Die Rettungsschirme, Entlastungspakete und Verteilungsdebatten sind nicht nur teuer, sie können es auch nicht allen gerecht machen. Die Ursachen müssen stattdessen an der Wurzel gepackt werden.

Unsere Vor­schläge verstehen wir als konstruktiven Lösungsbeitrag mit Fokus zur Verbesserung der Situation des energieintensiven Mittelstands in Deutschland. Ein Zusammenbruch der Energiemärkte oder der Wirtschaft würde unabsehbare Folgen für alle mit sich bringen. Dies gilt es unbedingt zu ver­hindern. Wenn Sie der Meinung sind, dass unse­re Vorschläge verbesserungswürdig sind, interes­siert uns Ihr Stand­punkt. Gerne können Sie diese Ausgabe weiterleiten. Die Zeit für gemeinsames Handeln wird knapp, die kommen­den Wochen werden entscheidend!


Kontakt

ECOTEC Energie & Effizienz
Dipl.-Ing. Markus Schnier
Stadtmauer 11
59872 Meschede
T. +49 (291) 95 29 95 - 10
F. +49 (291) 95 29 95 - 29
info@ecotec.de

Partnerschaften