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Notfallstufe Gas in Sichtweite – § 26 EnSiG bringt neue Umlage

IN DER KATEGORIE: EEG, Energiemanagement, Erdgas, Strom,

Erinnern Sie sich noch an die Bilder des Tsunamis in Thailand 2004? Touristen standen am Strand und filmten die anlandende Welle bis ihnen klar wurde, dass das Ausmaß und die Folgen dieser Naturgewalt viel größer sein werden als noch kurz zuvor erwartet. Beim Thema Energie drängt sich dieses Bild ebenfalls auf, da die breite Gesellschaft die Folgen der aktuellen Energiekrise zwar kommen sieht, aber vermutlich in ihrer Wucht noch nicht richtig einschätzt. Es geht dabei auch nicht nur um die Auswirkung, dass das Gas in den kommenden Jahren knapp ist und wir im Privatsektor mit Energiespartipps aus den Zeiten der 80er Jahre dagegenhalten sollen oder Industriebetriebe gegebenenfalls ihre Produktion einschränken müssen, sondern um die dramatische Verteuerung aller Energiepreise und die damit einhergehenden Folgen für die Produktionskosten in der EU, besonders in dessen industriellem Herz Deutschland. Die nächsten Monate werden sichtbar machen, was sich in letzter Zeit aufgebaut  hat: Wir befürchten die Ausrufung der „Notfallstufe“ und damit der offiziellen Ausrufung einer Gasmangellage durch das BMWK im Laufe des Monats und hoffen, dass der Energiehandel dann nicht zum Erliegen kommt - zu den Folgen und Preisentwicklungen später mehr.

Unbeirrt davon endet im August 2022 die Bewerbungsfrist in der sechsten Runde der Kohleausstiegsauktion, mit der weitere 700 MW an installierter Leistung dem Markt entnommen werden sollen. Zum Ende des Jahres müssen auch die verbliebenen Kernkraftwerke vom Netz gehen. Unsere Meinung: Alle Gaskraftwerke ohne Wärmenutzung, die nicht system- bzw. versorgungsrelevant sind, sollten schnellstens vom Netz genommen werden und alle stillgelegten und noch betriebsbereiten Kohlekraftwerkskapazitäten sollten übergangsweise genutzt werden, um Erdgas am Strommarkt aus der Merit Order zu verdrängen und so den Strompreis zu drücken. Das zusätzliche CO2 muss dann später durch andere Maßnahmen (z. B. CCS) wieder neutralisiert werden, gerne auch mit „Strafzinsen“.

Zu den aktuellen Schlagzeilen, z. B. Liquiditätsprobleme bei Uniper und die mögliche Staatsbeteiligung, informiert die Tagespresse ausführlich. Wir fokussieren uns bei den weiteren Ausführungen auf die für große Letztverbraucher relevanten Themen und bitten um Nachsicht, wenn uns die aktuellen Entwicklungen bereits überholt haben sollten, wenn Sie diese Zeilen lesen. Und da gibt es endlich auch mal wieder eine gute Nachricht! Unsere Warnungen zum Preisanpassungsmechanismus nach § 24 EnSiG in der letzten Ausgabe sind nicht auf taube Ohren gestoßen. Zumindest wurden die gleichen Argumente gegen diesen Mechanismus nun auch z. B. im Handelsblatt aufgeführt und damit der von der Regierung beabsichtigte Schwenk in Richtung eines Umlagesystems (§ 26 EnSiG) begründet. Die Aussetzung der Preisanpassungsmöglichkeit - § 24 EnSiG soll zwar nicht gestrichen, aber möglichst nicht angewendet werden - wäre jedenfalls ein großer Erfolg. Und auch das Umlagesystem geht zumindest in die richtige Richtung - es muss aus unserer Sicht aber noch dringend modifiziert werden, damit es auch fair und für alle Letztverbraucher verträglich ausgestaltet wird. Dabei müssen zwei Prämissen im Vordergrund stehen: Zum einen muss die Umlage so bemessen sein, dass sie nicht zu hoch ausfällt. Sie sollte in der Höhe begrenzt und ggf. auf mehrere Jahre gestreckt werden. Zum anderen benötigen diejenigen Verbraucher, die derzeit für 2023 zu Höchstpreisen beschaffen müssen, einen Gaspreisdeckel für den Gesamtpreis inklusive der Umlage, da sie ansonsten doppelt belastet bzw. bestraft werden.

Auch die Finanzierung der Umlage sollte auf den Prüfstand gestellt werden. Hier liegt die Überlegung nahe, sie auch aus den Übergewinnen der Profiteure der aktuellen Lage anteilig zu speisen: z. B. die Windkraftanlagen, die aus der EEG-Förderung gefallen sind bzw. jetzt fallen und die über 20 Jahre lang durch die EEG-Umlage seitens der Stromverbraucher massiv gefördert wurden. Sie haben im Coronajahr 2020 bei Spotmarktpreisen um die 30 €/MWh laut nach gesetzlicher Anschlussförderung gerufen, da sie sonst ihren Betrieb einstellen müssten - sie profitieren jetzt bei ca. 300 €/MWh enorm. Wäre es nicht ein Zeichen von Solidarität, einen Teil dieser Einnahmen an die Verbraucher zurückzugeben?

Zum Thema Energiepreise und -handel: Um sich einen guten Überblick zu verschaffen, war ein Besuch auf der E-world in Essen im Juni hilfreich. Dieser Treffpunkt der Energiewirtschaft hat sich in den letzten ca. 20 Jahren grundsätzlich gewandelt, so wie die Energiewirtschaft selbst. Wurde einem vor 15 Jahren noch der rote Teppich ausgelegt, wenn man bei den Newcomern (z. B. natGAS) mit Anfragen von großen Industriekunden auftrat, ist man heute bei den verbliebenen Akteuren eher Bittsteller. Man wird zwar nicht abgewiesen, es wird einem seitens der Vertriebe jedoch deutlich klar gemacht, dass man nicht mehr bereit ist, die Risiken einer Vollversorgung zu übernehmen. Das bedeutet also für große Letztverbraucher: Festpreisverträge und Tranchenformeln sind Auslaufmodelle. Stattdessen gewinnt die komplexere portfoliobasierte Beschaffung, die bei sehr großen Kunden ohnehin üblich ist und deren Vorteile wir schon länger auch für mittlere Kunden erklären, zunehmend an Bedeutung. Vor allem die Flexibilität ist aktuell ein großer Vorteil - denn der „kontinuierlich gestresste“ Handel scheut das Risiko: Aufgrund der extremen Preisvolatilitäten und geringen Liquidität bei allen Produkten, besonders bei den Kurzfristigen bis hin zu cal +1, werden deutlich mehr kleine Mengen gehandelt als früher. Für große Mengen am Terminmarkt gibt es kaum Angebote oder entsprechende Aufschläge. Eine große Herausforderung ist dazu die gesetzliche Gasspeicherbefüllung durch den Marktgebiets-verantwortlichen THE. Er muss fast alles vom Spotmarkt kaufen, was erhältlich ist. Nach Auskunft von Handelsinsidern werden hier Orders von bis zu 15.000 MW platziert. Im Ergebnis treibt THE als ausführendes Organ des Gesetzgebers den Spot mit einer Volatilität von bis zu 20 €/MWh im Intraday in neue Höhen.

Es gilt also, das passende Liefermodell sorgfältig zu wählen und den Markt genau zu sondieren, dann finden sich auch aktuell noch Möglichkeiten, ein Angebot zu erhalten. Wer für 2023 noch gar keinen Liefervertrag hat, für den ist die Situation schwierig. Erster Ansprechpartner sollte dann der bestehende Lieferant oder der lokale Versorger sein.

Im Bereich der kleineren Industriekunden laufen einige uns unbekannte (Pool-)anbieter über den Markt und bieten bis 2025 Festpreise an. Wir fragen uns, wie jene die für eine Absicherung erforderlichen „Margins“ bei diesen Niveaus bedienen können, wenn bereits Konzerne wie Uniper bei der KfW Liquiditätsbeihilfe beantragen. Andere Vertriebe bieten Verträge ohne feste Preisbindung an und verlangen von den Kunden, dass sie sich der Einkaufsstrategie des Lieferanten bzw. dessen Marktgeschick (vermutlich überwiegend Spotmarktpreis) aussetzen. Wir können nicht empfehlen, jetzt aus Nervosität solche Verträge abzuschließen.

Allgemein gilt: In dieser Ausnahmesituation ist die weitere Marktentwicklung nur ganz schwer zu erahnen - von prognostizieren soll gar nicht erst die Rede sein. Das von uns erwünschte bessere Szenario geht davon aus, dass Nord Stream 1 nach der Wartung Mitte Juli wieder mit mehr als 40 % Kapazität in Betrieb geht, das LNG-Terminal in Texas nach der Explosion früher als geplant wieder exportiert, die FRSUs an der deutschen Küste so schnell wie möglich in Betrieb genommen werden können, die französischen AKWs ihre Probleme in den Griff bekommen, der nächste Winter mild wird und auch sonst keine weiteren ungeplanten Überraschungen kommen. Das schlechtere Szenario ist das Gegenteilige, das den Handel zum Erliegen bringen könnte und die Frage aufwirft, wer abgeschaltet wird und wie es dann bei dem Energiepreisniveau mit unserer Wirtschaft weitergeht. Wir hoffen auf das bessere Szenario und würden uns freuen, wenn wir das nächste Mal über eine Entspannung der Situation berichten dürfen und die Notfallstufe entgegen unserer Befürchtung nicht ausgerufen wird. Noch etwas Positives zum Schluss: Die Energiewende erfährt durch diese Krise eine enorme Beschleunigung. Wenn wir die Übergangszeit ohne größeren volkswirtschaftlichen Schaden überstehen, machen wir einen Riesenschritt in Richtung klimaneutralem Wirtschaften und erreichen unsere Ziele vielleicht sogar eher als geplant. Bleiben wir optimistisch!

 


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