Liebe Leserin, lieber Leser,
wer sich dieser Tage in Berlin aufhält, ist näher mit den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine konfrontiert als hier im Westen. Am Berliner Hauptbahnhof stranden geflüchtete Familien – eine davon ist mir direkt aus dem Aufzug entgegengetreten. Deren Probleme sind in einer anderen Dimension als unsere, auch wenn hierzulande der russische Gashahn abgedreht würde – sie haben unsere uneingeschränkte Solidarität! Womit wir wieder beim Thema der russischen Gaslieferungen sind, das in der politischen Diskussion oben auf der Agenda steht und alle betrifft. Jeden Tag erreichen uns neue Meldungen aus Presse, Fachmedien und Verbänden, so dass sich selbst Momentaufnahmen schwierig gestalten – bitte berücksichtigen Sie dies bei unseren Ausführungen.
Auch wenn durch die nach aktuellem Anschein akzeptierte Umstellung des Zahlungsmodells bei der Gazprombank erst einmal ein Aufatmen durch die Branche geht, bleibt die Situation angespannt. Unabhängig von welcher Seite der russische Gasfluss gestoppt werden könnte, die Bundesregierung bereitet sich unter Federführung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz intensiv auf dieses Szenario vor. Daher mussten alle großen Verbraucher mit mehr als 10 MW Netzanschlussleistung jetzt seitens der Bundesnetzagentur Fragebögen zur Datenerhebung bei großen Gasletztverbrauchern beantworten. Zeitgleich wurde das Energiesicherheitsgesetz (EnSiG) von 1975 aus dem Keller geholt und auf die aktuelle Situation zugeschnitten. Es gibt den Lieferanten zukünftig ein einseitiges Preiserhöhungsrecht in die Hand für den Fall, dass sie die fehlenden russischen Gasmengen teurer am Markt zukaufen müssen. In der letzten Ausgabe haben wir bereits die Frage gestellt, wer in Berlin auf solche Ideen kommt und diesen Mechanismus zu dem Zeitpunkt noch für einen schlechten Witz gehalten, da er aus unserer Sicht eine Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Energielieferanten zu Lasten der Letztverbraucher darstellt. Der Bundestag hat die Reform des Gesetzes bereits angenommen und am Freitag hat auch der Bundesrat zugestimmt. Dabei mutet es fast ironisch an, dass im Rahmen der Schlussverhandlungen zur Novelle noch klargestellt wurde, dass die Preiserhöhung nicht über dem Niveau der Ersatzbeschaffung liegen darf und der Lieferant nach Ende der festgestellten Gasmangellage die Preise wieder auf ein angemessenes Niveau absenken muss. Das von ecotec im Falle eines kurzfristigen Lieferstopps befürchtete Szenario, sähe dann bezogen auf den Wirkmechanismus des nach Eintreten der Alarm- bzw. Notfallstufe angewendeten § 24 EnSiG so aus:
Abweichend von unserer in der Sonderausgabe gestellten Prognose, dass die Importeure und Lieferanten in Schwierigkeiten geraten, sind es jetzt die Letztverbraucher, die in Schwierigkeiten geraten, da sie es sind, die die höheren Kosten schultern müssen. Besonders diejenigen, die bislang auf ihre langfristig günstigen Lieferverträge vertraut haben, bekommen ihre Kalkulationsgrundlage unter den Füßen weggezogen. Ein Letztverbraucher mit 100 GWh/a bzw. 100.000 MWh/a, der im Jahr 2021 einen Vertrag für 20 €/MWh bis Ende 2024 geschlossen hat, muss mit einer Vervielfachung der Preise rechnen. Im schlimmsten Fall ist sein Lieferant zu 100 % von russischen Gaslieferungen abhängig. Dann muss der Lieferant seine Mengen komplett nachkaufen. Derzeit beträgt der Preis am kurzen Ende ca. 90 €/MWh, wir gehen aber davon aus, dass er im Fall eines Importstopps nochmals deutlich steigen wird. Ausgehend von einem Preis von dann 120 €/MWh betrügen die Mehrkosten 100 €/MWh, die sich bei einem Verbrauch von 100.000 MWh/a auf 10 Mio. € im ersten Jahr summieren. Da in diesem Fall die Preise am langen Ende ebenfalls steigen, wird es mit diesem Betrag nicht getan sein, sofern der Kunde dieses Szenario überhaupt lange durchhält. Vermutlich wird auch der Kunde, dessen Lieferant nur durchschnittlich 30 % russische Mengen ersetzen muss, mit 3 Mio. €/a Mehrkosten nicht viel besser davon wegkommen. Gute Nachricht hingegen für alle, die ihr Gas direkt an der EEX oder anderen Börsen beziehen: nach Auffassung von Juristen sind diese Verträge aktuell nicht betroffen. Bei anderen Handels- bzw. OTC-Verträgen ist die Situation noch unklar; ebenso bei Wärmelieferverträgen. Die Ausklammerung von Handelsgeschäften würde den Preisanpassungsmechanismus jedoch zumindest aushebeln, da die meisten Lieferanten ihrerseits über eben solche Verträge ihr Gas beziehen. Das EnSiG hinterlässt also eine Menge ungelöster Fragen, die unsere Gerichte im Fall des §24 vermutlich lange beschäftigen werden, wenn die Unklarheiten nicht im Rahmen einer erneuten kurzfristigen Anpassung beseitigt werden.
Die Preisanpassung ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere ist die Frage, wie lange der Kunde überhaupt noch Gas bekommt oder wann er abgeschaltet wird. Vermutlich wird die Abschaltkaskade darauf hinauslaufen, dass zuerst bivalente Verbraucher, die auf einen anderen Brennstoff wechseln können, vom Netz genommen werden, sowie nicht systemrelevante Erdgaskraftwerke. Dann kommen aber bereits die ungeschützten Letztverbraucher. Aufgrund der unzureichenden Datenlage - die Sicherheitsplattform Erdgas soll zum 1. Oktober 2022 in Betrieb gehen - läuft es anfangs vermutlich darauf hinaus, dass nach Branchen oder Produkten unterschieden wird und Einzelverfügungen lediglich in außergewöhnlichen Konstellationen ausgesprochen werden. Die Abwägung soll nach den folgenden Kriterien vorgenommen werden: Dringlichkeit, Anlagengröße, Vorlaufzeit, wirtschaftlicher Schaden sowie Kosten und Dauer der Wiederinbetriebnahme. Zynisch könnte man meinen, dass der betroffene Letztverbraucher dann vielleicht froh ist, abgeschaltet zu werden, damit er sich bei seinen Lieferverpflichtungen gegenüber seinen Kunden auf „höhere Gewalt“ berufen kann. Es ist auch vorstellbar, dass die Abschaltung durch die BNetzA als Bundeslastverteiler gar nicht erforderlich ist, da aufgrund der EnSiG-Preisanpassung viele energieintensive Letztverbraucher gar nicht mehr wirtschaftlich produzieren können, was wir bereits im vergangenen Jahr gesehen haben. Abschaltung und Preisanpassungsrecht nach EnSiG werden sich gegenseitig beeinflussen; nur wie sie das werden, ist schwer absehbar.
Wahrscheinlich ist auch, dass die aus der forcierten Abkopplung von Russland resultierende Gasmangellage mittelfristig nur mit sehr hohen Kosten überhaupt in den Griff zu bekommen ist, da nirgends günstiges Gas in Sicht ist - auch ohne Importstopp und wenn wir über die schwimmenden LNG-Terminals Ende kommenden Jahres wieder genug Gas importieren können. Katar jedenfalls scheint nur an langfristigen 20-Jahresverträgen und vermutlich auch nicht besonders günstigen Lieferverträgen interessiert zu sein, da ca. 30 Mrd. € in die zusätzlich erforderliche Infrastruktur investiert und ca. 100 neue LNG-Tanker gebaut werden müssen. Damit begeben wir uns nicht nur in eine neue, langfristige LNG-Abhängigkeit, sondern gefährden zudem die langfristigen Klimaziele ab 2030. Ab 2024 soll LNG aus einer Verflüssigungsanlage in Texas, an der Quatar Energy 70 % hält, geliefert werden und ab 2026 weitere Mengen direkt aus Katar. Untermauert werden soll die enge Partnerschaft durch ein neues Sicherheitsabkommen, das die Verteidigungsministerien beider Länder vereinbaren sollen - ein Schelm, wer dabei an Rüstungslieferungen denkt.
Fazit:
Es bleibt aus Gründen der Versorgungssicherheit und funktionierender Märkte zu hoffen, dass der Gasfluss aus Russland nicht abreißt. Aber auch bei einer Weiterbelieferung werden viele Kunden sukzessive mit neuen Preisniveaus klarkommen müssen, die neben anderen Teuerungen an den Markt weitergegeben werden müssen. Dies wird zu Rohstoffbeschaffungs- bzw. Produktionsverlagerungen und zu verstärkten Energieeinsparungen führen - besonders bei Heizkunden, wo im Bestand noch große Potentiale schlummern. Beides wird sich nicht unerheblich auf den Erdgasverbrauch auswirken, der vermutlich schon in diesem Jahr spürbar sinkt. Im Ergebnis sind also zwei Szenarien denkbar:
1. Kurzfristiger Importstopp und weiter steigende Preise zuzüglich einseitiger intransparenter Preisanpassung nach § 24 EnSiG, Abschaltungen von ungeschützten Kunden mit unkalkulierbaren Auswirkungen auf die mittelfristigen Strom- und Gaspreise sowie die Gesamtwirtschaft, drohendes Chaos in den Verwaltungen und jahrelange Aufarbeitung der Schäden aus Abschaltungen und Preisanpassungen bei den Gerichten – eine Mammutaufgabe auch für Anwaltskanzleien, von denen bereits jetzt schon „Schutzanträge“ für bestimmte Branchen bei der Bundesnetzagentur angeboten und eingereicht werden.
2. Weiterbelieferung mit russischem Gas und Beruhigung der Preise am kurzen Ende der Terminkurve auf hohem Niveau, das vermutlich nicht mehr unter die Preise der weiter entfernt liegenden Jahre von 50 €/MWh zurückgehen wird, es sei denn, die Weltwirtschaft stürzt insgesamt in eine Rezession.
Wir hoffen auf das 2. Szenario und können uns dann auch wieder anderen Themen zuwenden. Unsere Prognose: Um die 50 €/MWh ist die neue mittelfristige Kalkulationsgrundlage für Produktionsprozesse mit Erdgas und die Beschaffung. Unser Tipp: „Don‘t put all your eggs in one basket.“