Der Konflikt in der Ukraine beschäftigt uns alle und führt uns vor Augen, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns bewegen. Wir hoffen auf eine schnelle Beendigung des Leides aller Betroffenen und auf Frieden in Europa! Unabhängig von der weiteren Entwicklung führt dieser Konflikt zum Umbruch in der Energiewirtschaft. Die wichtigsten Fakten und Auswirkungen im Überblick:
Erdgasmarkt
Die ohnehin angespannte Preissituation am Erdgasmarkt hat sich bei hoher Volatilität nochmals dramatisch zugespitzt. Spotmarktpreise von deutlich über 100 €/MWh sind das Ergebnis, „Entspannung“ ist erst 2026 (< 30 €/MWh) in Sicht. Unsere Hinweise im Juli und September 2021, eine frühzeitige Absicherung für 2023, 2024 und 2025 für < 20 €/MWh vorzunehmen, waren hoffentlich hilfreich.
Strommarkt
Die Situation am Strommarkt ist nicht anders, da Erdgas bei nicht ausreichendem Angebot an Erneuerbaren preisbestimmend ist und Steinkohle bei astronomischen ca. 350 €/t schwankt. Spotmarktpreise von aktuell 200 bis 400 €/MWh lösen eine Kostenexplosion für die energieintensiven Verbraucher aus, die sich nicht ausreichend eingedeckt haben. Das cal 23 liegt mit ca. 170 €/MWh beim Vierfachen dessen, was im Jahr 2020 notiert wurde. Einzig CO2 (EUA) konnte nicht mithalten und liegt nach einem Tief von ca. 55 €/t aktuell wieder bei ca. 75 €/t – damit noch ca. 20 €/t unter dem Höchststand.
Dabei sind die Preisrekorde nicht einer Gasknappheit geschuldet, sondern der Sorge vor einer Unterbrechung bzw. drastischen Reduzierung der russischen Erdgaslieferungen. Da sich aber immer deutlicher abzeichnet, dass die mit diesen Niveaus einhergehenden Herausforderungen nicht nur die breite Bevölkerung, sondern auch die Industrie und die Energielieferanten selbst erfasst, scheint die Diskussion über Maßnahmen zu beginnen:
- So soll die EU-Kommission Vorschläge für einen Preisdeckel im Gashandel machen, der beim nächsten Gipfel am 23. März besprochen werden soll. Auf die Umsetzung und Gegenfinanzierung darf man gespannt sein.
- Zusätzlich überlegt Bundesfinanzminister Lindner, einen Schutzschirm mittels kreditfinanziertem KfW-Programm für Energielieferanten zu spannen, die in Liquiditätsprobleme geraten sind. Auch direkte Hilfen für Unternehmen sind nicht ausgeschlossen. Die Koalition will kurzfristig weitere Maßnahmen vorstellen.
- Bundeswirtschaftsminister Habeck will mögliche Engpässe in der Stromversorgung durch die Aktivierung der Braunkohle-Sicherheitsbereitschaft (1.900 MW) und den Weiterbetrieb von ca. 1.600 MW Braunkohlekraftwerken durch RWE abwenden. Weitere Vorschläge haben eher Versorgungssicherheitsaspekte (z. B. Long-Term-Options, Gasspeichergesetz und Kohlereserve).
Die wesentlichen Herausforderungen für große Verbraucher kommen in der öffentlichen Debatte zu kurz:
- Wir sind bei der Primärenergie in hohem Maß importabhängig. Der Ausstieg aus der Braunkohle und der Atomkraft hat diese Abhängigkeit gesteigert, die heimische Erdgasförderung spielt mit einem Anteil von 5 % kaum eine Rolle und ist nicht nennenswert ausbaubar. Der Aufbau einer überwiegend importunabhängigen Energieversorgung vorwiegend auf Basis Erneuerbarer Energieträger zu verträglichen Kosten – so wünschenswert und wichtig sie ist – wird noch viele Jahre dauern und vor 2035 kaum realisierbar sein.
- Die Gasmengen aus Russland können mittelfristig zwar ersetzt werden, aber zu vermutlich zwei- bis dreifachen Preisen und durch neue Abhängigkeiten gegen-über teilweise nicht demokratischen Staaten. Katar, USA, Westafrika und Ägypten sollen ca. 50 Mrd. m³ LNG nach Europa liefern (entspricht ca. der Hälfte des jährlichen deutschen Erdgasverbrauchs) und zusätzlich sollen ca. 10 Mrd. m³ zusätzliches Pipelinegas aus Aserbaidschan, Norwegen und Algerien importiert werden.
- Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie wird aufgrund des Energiepreisanstieges leiden, da die günstigen Bezugsverträge sukzessive auslaufen und zu teuren Preisen nachgekauft werden muss. Hingegen liegt der aktuelle Preis am US-Handelsplatz Henry-Hub zwar auch beim 3-fachen Preis gegenüber 2020, aber aktuell nur bei ca. 15 €/MWh, also bei einem Zehntel gegenüber unserem aktuellen Spotmarktpreis. Da spielen die initiierten Entlastungen, die der Industrie nur bedingt nutzen, eher eine untergeordnete Rolle.
- Viele Energielieferanten haben sich aus der Belieferung größerer Kunden zurückgezogen. Es war bereits seit Beginn der COVID-Pandemie eine selektive Ansprache nötig, um qualifizierte Angebote und individuelle Verträge zu erhalten. Derzeit sind nur wenige Angebote für neue Energielieferungen erhältlich, meistens für Bestandskunden. Neben der allgemeinen Unsicherheit können bzw. wollen viele Lieferanten die aufgrund der hohen Handelspreise gestiegenen Sicherheiten („Margin“) gegenüber ihren Handelspartnern nicht mehr erbringen. Uniper und VNG haben in diesem Zusammenhang milliardenschwere Liquiditätshilfen bei der KfW nachgefragt. Einige Lieferanten geben diese Sicherheiten bereits an ihre Kunden weiter, da sie das Risiko vermeiden wollen, im Rahmen einer möglichen Wirtschaftskrise bzw. einer Kundeninsolvenz auf teuer eingedeckten Terminmarktmengen zu sitzen, falls sie diese zu günstigeren Preisen wieder am Markt verkaufen müssen. Das hat zur Folge, dass neue Beschaffungsmodelle angeboten werden und der Liefervertrag für die Kunden wichtiger wird als das Zuschlagsglied. Ob und mit welchen Zuschlagsgliedern die Vollversorgung (Festpreis, Tranchenpreisfixierung) zukünftig weiter angeboten wird, ist ungewiss. Es entsteht eine neue Komplexität in der Energiewirtschaft, die sich kaum über eine „Portalökonomie“ abbilden lässt.
- Erdgas als Übergangsenergieträger wird aufgrund der hohen Unsicherheit und Volatilität für neue Energieprojekte kaum kalkulierbar. Wie sollen in diesem Umfeld neue Erdgaskraftwerke als Backup für die Erneuerbaren entstehen? Ein bislang von der Politik nicht für erforderlicher Kapazitätsmarkt wird jetzt zumindest deutlich wahrscheinlicher und würde das bestehende Energiemarktdesign deutlich verändern.
Was können größere Letztverbraucher tun, besonders wenn sie nicht günstig eingedeckt haben?
- Solange die Preisniveaus nicht nachlassen, bleibt es schwierig. Wir gehen nicht davon aus, dass sich die Lage schnell ändert – im Gegenteil: wenn die Diskussionen über einen Lieferstopp aus Russland anhalten, wird der Preis kaum sinken. Dennoch bieten einige Lieferverträge Optimierungsmöglichkeiten. Besonders dann, wenn betriebliche Flexibilitäten bestehen oder eine größere Kraft-Wärme-Kopplungsanlage betrieben wird.
- Den Markt beobachten und ggf. Energielieferangebote für die Anschlusslaufzeit anfragen und bewerten. So verliert man keine Zeit, wenn Eile geboten ist.
- Alle Energieeinsparmöglichkeiten bzw. Energieeffizienzmaßnahmen erneut auf den Prüfstand stellen und auf Umsetzung prüfen. Es gibt massive Unterstützung durch Förderprogramme. Wir unterstützen Sie gerne.
- Eine Strategie zum Umstieg auf Erneuerbare Energieträger und zur CO2-Einsparung entwickeln, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Wer bereits jetzt über Grünstrom aus einem selbst errichteten Corporate-PPA verfügt, hat Kostenvorteile. Grünstrom aus Greenwashing via HKN ist im Preis mehr gestiegen als Graustrom, weil sich der Preis für HKN deutlich verteuert hat.
Ergänzend noch ein Hinweis auf eine zuletzt häufig gestellte Frage bezüglich einer hoffentlich unwahrscheinlichen Unterbrechung der Gasversorgung in Deutschland, die bereits von einigen Erdgaslieferanten kommuniziert worden ist. Dieser Fall ist in § 53a EnWG geregelt. Kurz gesagt haben Haushaltskunden und grundlegende soziale Dienste Vorrang, ebenso Fernwärmeversorger, die keinen Brennstoffwechsel vornehmen können. Zu Beginn wird die Leistung (besonders auf der Ferngasebene) abgeschaltet, die unterbrechbar ist. Näheres findet sich zumeist auch in Ihrem Netzanschlussvertrag.
Zum Schluss noch einen Blick auf die Gewinner der Krise: Neben den LNG-Exporteuren sind es vor allem die Betreiber von EEG-Anlagen. Riefen sie noch 2020 bei niedrigen Handelspreisen nach Anschlussförderung, erhalten sie jetzt in manchen Fällen höhere Marktpreise als zuvor die gesetzliche EEG-Vergütung durch den Netzbetreiber. Noch höher ist der Vorteil bei den Anlagen, die noch in der Förderung sind: Sie haben die Möglichkeit, in die Direktvermarktung zu wechseln und jetzt höhere Vergütungen zu erwirtschaften. Wenn die Preise nachlassen sollten, können sie wieder in die Umlagefinanzierung zurückkehren.
Die geplante Absenkung der EEG-Umlage auf 0,00 ct/kWh kostet den Bundeshaushalt vermutlich weniger als angenommen, da einerseits die Erlöse aus der EEG-Stromvermarktung deutlich steigen und andererseits immer mehr Betreiber in die sonstige Direktvermarktung wechseln. Eine negative EEG-Umlage ist im Gesetz aber nicht vorgesehen.